Projekt Gesicht

Seit nunmehr zwei Stunden sitze ich vor diesem leeren Blatt Papier und überlege mir, welche Geschichte ich aufschreiben soll. Dies lässt vermuten, dass zahlreiche, ja sogar geistreiche Ideen vorhanden sind, zwischen denen ich mich entscheiden muss. Und immer wenn das Wort „vermuten“ im Zusammenhang mit einer Annahme erwähnt wird, erweist es sich als das pure Gegenteil. Meine Finger kauern wie ein Sprinter im Pflock und warten auf das Signal. Doch heute haben die Synapsen verschlafen, die Bilder im Kopf sind verschwommen und durchsichtig.
Ich könnte Ihnen erzählen, wie oft ich mich in den letzten Tagen für meinen Bart rechtfertigen musste, den ich im Ursprung seiner Spriessfreudigkeit aus Faulheit wachsen liess und nun als Zeichen von beständiger Sturheit behalte. Durch den Schlafmangel, ausgelöst durch die Gewissheit ausschlafen zu können, es aber nicht zu tun und trotzdem erst spät Nachts ins Bett gehen, da ich ja ausschlafen könnte, entstanden zeitgleich mit dem Bart die anfangs Anthrazit glänzenden, nun schwarz bläulich schimmernden Augenringe. Dazu kommt die unglückliche Tatsache, dass mein Coiffeur in seinen ausgedehnten Herbstferien weilt und ich deshalb meine überbordenden Haare nicht stutzen kann. Mein soziales Umfeld betrachtet meine unstrategisch herbeigeführte Veränderung mit einer Mischung aus Ekel und Sorge. Mein Versicherungsvertreter hat zurzeit ebenfalls seine wohl verdienten Ferien, doch dies stört niemanden.
Ich giesse mir noch einmal Kaffee nach. Rauche eine Zigarette. Höre Musik und gehe dazu im Wohnzimmer auf und ab, lehne mich an den Fensterrahmen und betrachte den Laubbaum, wie er sich nicht im geringsten bewegt. Windstille diagnostiziert und zum leeren Blatt Papier zurückgekehrt. Ich verdiene nicht einmal Geld mit dem Schreiben. Zum Glück. Sonst wäre ich wahrscheinlich verhungert oder müsste für den Blick am Abend Kolumnen schreiben. Über Themen die den Normalbürger bewegt (laut der PR Abteilung dieses Bilderbuches, die öfters einen Relaunch ankündigt als einen Artikel mit Inhalt). Das Fusspilzproblem der Miss Schweiz. Die Einsamkeit und zerbrechliche Seite von Karl Hirschmann. Die Befürworter und Gegner der Flutkatastrophe von Pakistan unter den Schweizer Prominenten. Baschi singt auf Hochdeutsch... Moment, nein, doch nicht... doch er tut es. Oder doch nicht?

Es ist mittlerweile später Abend. Die Windstille bleibt beharrlich windstill und mein Bartwuchs kommt schleppend voran. Nur meine Augenringe haben ihren Horizont erweitert und erstrahlen in launischer Abendröte. Ich muss mich geschlagen geben. Kein einziges Wort ergänzt mein leeres Blatt in seiner Unvollkommenheit. Ein Gedanke streift mir kurz vor dem einschlafen noch durch den Kopf. Wenn ich dieses rebellisch leere Blatt verbrannte, hätte ich keinen Grund mehr etwas darauf niederzuschreiben. Ein schöner Gedanke, der mich noch eine Weile wach hält und davon erzählt, dass Leere oft mit einer Flut von Gedanken gefüllt ist! 

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